Leben und Wohnen im Kölner Veedel Mühlheim
Foto: Thilo Schmülgen

Mülheim. Juwel der Stadt.

In dieser Rubrik betrachten wir das Leben und Wohnen in Köln. Hartnäckig hält sich die Rede, wonach die rechte Rheinseite die Schäl Sick Kölns sei. Ob das jemals stimmte, mögen Historiker beurteilen – die Gegenwart sieht jedenfalls anders aus. Die rund 42.000 Mülheimer sind dabei, ihren Stadtteil zum nächsten Boom-Veedel Kölns zu machen. 

Architekt Johannes Adams

„Ich dachte, ich bau das mal eben, und dann bin ich wieder weg”

Wer vom Zoo herkommend die mächtige, in „Kölner Brückengrün“ getünchte Mülheimer Brücke erklimmt, dem muss die noch vor gut 100 Jahren freie Stadt am Rhein als einziges Filetstück erscheinen. Flussabwärts mondäne Stadthäuser, Ruderverein, Grundschule, Gymnasium und das pittoreske Ensemble der zum Schutze der Rheinschiffer im 13. Jahrhundert erbaute Kirche St. Clemens. Flussaufwärts der Mülheimer Hafen, die geschichtsträchtigen Gebäudezüge von Klöckner-Humboldt-Deutz, moderne Wohnbebauung, Hotels, Veranstaltungslocations und Workspaces für Kreative und Startups. Wohl der Stadt, die solch ein Schmuckstück „Problemviertel“ nennt.

Der Architekt Johannes Adams war um die Jahrtausendwende einer der ersten, die das Potenzial Mülheims erkannten. Der Blick über die Dächer der Stadt erinnerte ihn an New York, wo er damals lebte. Mitten ins fast unbewohnte Niemandsland an der Deutz-Mülheimer-Straße/Ecke Auenweg pflanzte er das „New Yorker“, ein Designhotel fernab vom Einheitsschick der großen Ketten. Die Mülheimer wunderten sich über das bunte Ufo, das da zwischen ihren altersschwachen Fabrikhallen gelandet war. Heute markiert das Hotel den Beginn eines grundsätzlichen Imagewandel des Stadtteils.

„Ich dachte, ich bau das mal eben, und dann bin ich wieder weg“, gibt Adams zu. Doch die „positive Energie des Unfertigen“, die dem Viertel bis heute innewohnt, hielt ihn am Platz. Mittlerweile wohnt er dort und betreibt in unmittelbarer Nachbarschaft mehrere Eventhallen wie das „Dock One” und den „Harbour Club“.

Dramaturgin Michaela Kretschmann

„Hier kann man Utopien entwickeln”

Ewig unfertig und zugleich Kristallisationsort für Ideen und Visionen ist auch das Areal zwischen Keup-, Schanzen- und Carlswerkstraße. Hier begründeten Macherfiguren wie Dieter Gorny, Stefan Raab und Harald Schmidt die bisher erfolgreichste Ära des Privatfernsehens, von der außer der darbenden Produktionsfirma Brainpool nicht viel geblieben ist. Heute residieren auf dem Gelände, auf dem ursprünglich die Firma Felten&Guilleaume Kabel für alle Welt produzierte, der Großverlag Bastei Lübbe, Kommunikationsagenturen wie Rewe Digital und Wunderman und das Kölner Schauspiel. Dessen Mitarbeiter erbringen mit dem Carlsgarten, einem wunderbar wuchernden Urban-Gardening-Idyll, den sinnfälligen Beweis für die einsetzende Blühte des Standorts. Dank des wie eine Heizplatte fungierenden Betonbodens lässt sich hier sogar im Winter Mangold ernten.

Michaela Kretschmann, im Hauptberuf Dramaturgin, kümmert sich mit einer Handvoll Mitbuddler im Frühling um den Pflanz-, im Sommer um den Gieß- und im Herbst um den Ernteplan. „Ich investiere mindestens eine Stunde am Tag”, sagt sie, aber sie bereut keine Minute. „Dieser Ort ist ein Glücksfall. Hier kann man Utopien entwickeln.” Und verwirklichen, alljährlich sichtbar am Beispiel des Kulturfests „Birlikte“. 2014 erstmals ausgerichtet zum zehnten Jahrestag des NSU-Nagelbombenattentats auf der Keupstraße, ist es heute eine jährliche Institution für Freiheit und Toleranz, die der urkölschen „Arsch huh, Zäng ussenander“-Initiative echte Multikulturalität voraus hat.

Geschäftsfrau Merhal Sahin

„Das hat uns im Herzen berührt”

Eine „göttliche Fügung“ nennt Meral Sahin von der IG Keupstraße die baubedingte Umquartierung des Schauspiels aufs Carlswerkgelände, die außer „Birlikte“ auch das Aufsehen erregende Theaterstück „Die Lücke“ hervorgebracht hat, in dem Schauspieler und Mülheimer gemeinsam auftraten. „Da wurde unser Leben hier zum ersten Mal mit echtem Respekt behandelt und so auf die Bühne gebracht, wie es wirklich ist“, sagt Sahin. „Das hat uns im Herzen berührt.“

Auf der 480 Meter kurzen Keupstraße treffen 113 Geschäfte und Restaurants, Geschmäcker und Gerüche aus Orient und Okzident, Lebensentwürfe zwischen Gestern, Heute und Morgen aufeinander. Dieses „Juwel der Stadt“, wie es Sahin nennt, entdecken zunehmend auch Menschen wie Robert Drakogiannakis und Annick Manoukian, als Mitglieder der Punkrockband Angelika Express einem bundesweiten Publikum bekannt.

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Mitglieder der Punkrockband Angelika Express

„Mülheim ist das pralle Leben ...“

Beide sind vor gut einem halben Jahr aus dem Agnesviertel über den Rhein gezogen. „Mülheim ist das pralle Leben, nicht so gesättigt wie die Innenstadt”, sagt Drakogiannakis, der am 11.11.2016 das Angelika-Express-Album „Alkohol” veröffentlicht hat.

Das Paar freut sich über Kneipen wie das „Limes“, die neuen Sushi- und Burger-Lokale und den kulturellen Reichtum des Stadtteils, den man bei Veranstaltungen wie dem Weekend-Festival oder der „Mülheimer Nacht” entdecken kann. Sie betrachten solche Entwicklungen aber auch mit dem leisen Argwohn derer, die wissen, was Gentrifizierung bedeutet. „Hier ist noch Platz für Biotope, die nicht nur dafür da sind, Geld abzuwerfen”, sagt Drakogiannakis. „Aber an den anonymen Neubauten am Rhein oder dem fürchterlichen Wiener Platz sieht man auch, wie schnell positive Entwicklungen ins Gegenteil umschlagen können.”

Meral Sahin teilt diese Sorge und fordert, die Bürger bei den bevorstehenden großen Bauvorhaben im Stadtteil einzubeziehen: „Es ist wahnsinnig wichtig, dass die Leute eingebunden werden, für die etwas gemacht wird.”

Text: Sebastian Züger